Aufruf: 1001 Gründe Deutschland abzuschaffen – Soziale Kämpfe statt nationaler Einheit und falschen sozialen Zusammenhalt

Für das erste Oktoberwochenende wird Erfurt Austragungsort für die zentralen Einheitsfeierlichkeiten. Gegen das deutsche Spektakel regt sich allerdings Widerstand. Schließlich gibt es 1001 Gründe Deutschland abzuschaffen. Wir dokumentieren den Aufruf des Bündnis gegen die Einheitsfeierlichkeiten in Erfurt und rufen dazu auf am 2. und 3. Oktober nach Erfurt zu kommen. Genauere Infos folgen in den kommenden Wochen auf der Seite mit dem schönen Namen: https://deutschlandabschaffen.noblogs.org

Aufruf

Am 3. Oktober 2022 finden in Erfurt der zentralen Einheitsfeierlichkeiten unter dem Motto „zusammen wachsen“ statt. Zusammenwachsen soll die deutsche Nation, welche aus ihrer eigenen Vergangenheitsbewältigung neues Selbstvertrauen zieht und fleißig auf der internationalen Bühne mitmischt.
Für uns ist die zentrale Einheitsfeier ein Anlass genug um gegen Nationalismus auf die Straße zu gehen und unsere Kritik an den deutschen Zuständen auf die Straße zu tragen.

Zusammenwachsen in der Nation

In der völkischen Vorstellung von Nationalstaaten gelten diese als „natürliche Gebilde“, welche sich über eine gemeinsame Sprache, Kultur und über ein festgelegtes Territorium definieren. Entgegen dieser Annahme bilden Nationalstaaten viel mehr eine spezifische Organisationsform als politischen und juristischen Rahmen für die kapitalistischen Produktionsverhältnisse. Die Nation dient hier als
Quelle der kollektiven Identität, insbesondere da Nationalstaaten auf dem Weltmarkt miteinander konkurrieren oder die internationale Politik bestimmen. Der Nationalstaat ist das grundlegende Ordnungsprinzip des 21. Jahrhunderts. Die kollektive Identität speist sich aus dem Gefühl der Zugehörigkeit zu einer Nation und die damit verbundene Legitimation von politischen und sozialen Ansprüchen. Die Unterteilung der Menschheit in unterschiedliche Nationen macht deutlich, dass es dabei nicht etwa um den Zusammenschluss von konkreten Individuen geht, sondern viel mehr etwas überindividuelles, dem Menschen außenstehendes ist, was sich durch Kultur, Abstammung oder Geschichte definiert.

Das Konstrukt der Nation dient vor allem dazu Widersprüche im Interesse des Kapitals aufzulösen und bildet die Schnittstelle verschiedener Macht- und Herrschaftsverhältnisse. Nation kommt hier als spezifisch-bürgerliche Organisationsform zum Tragen. Die Nation homogenisiert die Bevölkerung ideologisch, aber auch durch institutionelle Maßnahmen wie ein gemeinsames Schulsystem und gibt somit den Rahmen der Produktionsverhältnisse des Nationalstaates als Grundlage für das Funktionieren des globalen Kapitalismus. Nationalstaaten bilden somit den
politischen Überbau des globalen Kapitalismus und nationale Interessen bilden eine neue Herrschaftslegitimation. Dabei vertritt der Nationalstaat seine Interessen nach innen und nach außen. Nach innen beispielsweise in Form von politischen Instrumenten der Verwaltung derjenigen, die der Produktion wieder hinzugeführt werden sollen. Menschen werden auf ein eindeutiges und nicht veränderbares Geschlecht zugerichtet, Frauen in die Rolle von Sorgenden Müttern gepresst, während Männer ein Produkt der Disziplinierung und des Funktionieren-Müssens auf dem Arbeitsmarkt oder im Militär sind.

Auch völkischer Rassismus ist integraler Teil des deutschen Staates, wer einen Pass bekommt, ist nach wie vor zuallererst eine Frage des Blutes — wer deutsche Eltern hat, darf dazu gehören. Ergänzend dazu der Leistungsrassismus: Wer dem Standort nützt, darf nach einiger Zeit auch mitspielen. Ein rassistisch unterschichteter Arbeitsmarkt sorgt für niedrige Löhne, rassistische Ideologie legitimiert diesen Zustand und sorgt darüber hinaus dafür, dass die abhängig Beschäftigten ihren Interessen nicht kollektiv nachgehen, sondern individuell und auf Kosten anderer Lohnabhängiger. Der weitere Abbau des Sozialstaates, Sanktionierungen von Arbeitslosen und sogenannte Wiedereingliederungsmaßnahmen sind nur einige Werkzeuge, die dem Nationalstaat zur Kontrolle der arbeitenden Massen zur Verfügung stehen. Nach außen werden dieInteressen auf dem Weltmarkt vertreten, sei es im Kampf um Ressourcen oder der Steigerung der Attraktivität als Produktionsstandort.
Als Herrschaftslegitimation dient die kollektive Identität der Nation vor allem dazu, die eigenen Interessen bzw. die im Sinne des Kapitals durchzusetzen. In der Vorstellung, alle sitzen im selben Boot der Nation, lassen sich Lohnkürzungen, Einschnitte im sozialen Bereich usw. ermöglichen. Der identitäre Slogan der diesjährigen Einheitsfeier, „zusammen wachsen“, steht in eben jener Funktion des Nationalstaats.

Deutschland denken heißt Auschwitz denken

Der deutsche Nationalismus stellt in seiner Abgrenzung zu anderen nationalen Identitäten eine Besonderheit dar. Denn es ging bei der deutschen Nationswerdung nicht etwa, wie bei der französischen oder amerikanischen, wo sich der Pöbel gegen den herrschenden Adel zusammengetan hat. Der Deutsche Nationalstaat wurde 1871 im Bündnis vom Bürgertum und adeliger Obrigkeit geschmiedet. Ausgerufen nach dem preußischen Sieg im deusch-französischen Krieg 1871/71 verbündeten sich die ehemals verfeindeten Nationalstaaten direkt um die revolutionäre Erhebung der Pariser Kommune blutig niederzuwerfen. Die Schritte der deutschen Nation liefen über die Schlachtfelder des ersten Weltkrieges und gingen schließlich weiter auf den Nationalsozialismus zu. Die deutsche Identität fand zwischen 1933 und 1945 ihre Erfüllung in einem gleichzeitig bürgerlichen und anti-bürgerlichen Aufbegehren gegen die kapitalistische Moderne. Der deutschen Nation inhärente Antisemitismus verfolgte und ermordete diejenigen, die das deutsche Mordkollektiv als die negativ-empfundene Seite der kapitalistischen Vergesellschaftung identifizierte, samt der daraus resultierenden Konsequenz: die industrielle Ermordung der europäischen Juden. Materialistisch gesehen lief indes die irrationale Rationalität der Kapitalverwertung auf Hochtouren weiter. Die Deutschen fanden ihre Identität in der
Vernichtung der europäischen Judentums, welchem gegen Ende des Krieges mehr Priorität eingeräumt worden ist als den militärischen Erfolgen an der Front. Mit Auschwitz offenbarte sich das, was deutsch ist — und dem können wir uns nur mit einem klaren „Nie wieder Deutschland!“ wiedersetzen.

Anschluss der DDR als Wendepunkt

Das ursprüngliche Vorhaben den 3. Oktober als Nationalfeiertag zu etablieren existiert nur, da die Deutschen vom Ausland noch rechtzeitig daran erinnert wurden, dass „das Datum bereits ein historisches ist“ (Eike Geisel). Dennoch existiert das nationale Selbstbewusstsein der Deutschen heute nicht trotz, sondern gerade wegen Auschwitz. Spätestens mit dem zentralen Denkmal für die Ermordeten Juden Europas in Berlin in den 90ern wurde jeglichem Schlussstrichdenken eine Absage erteilt. Stattdessen folgte eine Thematisierung des NS als Teil deutscher Geschichte, die Kontrastierung des eigenen Täter-Status mit einem Lernerfolg gegen Extremismus einhergehend mit einer Stilisierung der Aufarbeitung als Erfolgsgeschichte. Aus letzterer Entwickelte sich dann, was vorher angesichts von Auschwitz zurecht unmöglich schien, erstmals eine positive deutsche Nationalidentität.

Während man sich dabei jedoch nur auf die Lehren aus dem Nationalsozialismus bezog, hängt die in der Tradition der Totalitarismustheorie stehende Extremismusformel mit dem Untergang der DDR zusammen. Um die erweiterte Bundesrepublik historisch zu legitimieren und ihren Bürger*innen eine gemeinsame identifikatorische Grundlage zu geben fungierte die annektierte DDR nun ebenfalls als negative Kontrastfolie. Die Einheitsfeierlichkeiten sollen dieses nationalistische Vergemeinschaftungsprojekt jährlich wiederholen. Die hiesige Kritik an der DDR hat damit auch nicht die Funktion über sie aufzuklären, sondern dient nur der Legitimation der BRD. Die Annektion der DDR ist damit nicht nur ein Wendepunktfür den deutschen Nationalismus, er besiegelte 1989 auch die Verunmöglichung einer Demokratisierung des Sozialismus. Jene Nationalidentität und die nationale Vereinigung des deutschen Mobs spiegelte sich in der Wendezeit und insbesondere in der Einheitsnacht vom 2. auf den 3. Oktober mit flächendenckenden rechten Angriffen in rassistischen Pogromen, gezielten Neonaziangriffen und -morden im gesamten vereinigten Deutschland, vor allem aber im Osten wider, und brachte die Normalisierung eines deutschen Nationalismus mit sich.

Deutschland heute

Als eine weitere Folge der Normalisierung der deutschen Nation auf internationaler Ebene erfolgte der erste Angriffskrieg im Jugoslawienkrieg durch eine rot-grüne Bundesregierung, deren Legitimation es war, ein vermeintliches zweites Auschwitz zu verhindern. Aus der eigenen Vergangenheit zieht Deutschland seine moralische Legitimation in andere Länder einzufallen, oder wie es die neue Außenministerin Baerbock nennt: wertebasierende Außenpolitik. Die neuen Großmachtfantasien Deutschlands werden mit Werten aus den Lehren der Vergangenheit begründet. Heute kämpft Deutschland nicht mehr gegen ein zweites Auschwitz, sondern für Demokratie und Menschenrechte weltweit, sichert sich eine außenpolitische Vormachtstellung in Europa und drängt andere Nationen – wie die Griechenlandkrise deutlich machte – in den finanziellen und sozialen Ruin um sich die eigene wirtschaftlichen Überlegenheit in Europa und weltweit zu sichern. Über Leichen gehend werden die deutsch-europäischen Interessen an Europas Außengrenzen verteidigt. Das Land der Krisengewinnler wähnt sich als moralisch überlegenes Opfer. Lange schon vergessen, ist die Gefahr für die Emanzipation der Menschheit, die von von Deutschland und seinen Großmachtbestrebungen ausging und immer noch ausgeht. Denn die objektiven Voraussetzungen für die Faschisierung, nämlich die kapitalistische Vergesellschaftung an sich, wie auch die nationale Zusammenrottung, sind nach wie vor gegeben.

Am 3. Oktober nach Erfurt!

Es gibt genug Gründe um gegen Deutschland auf die Straße zu gehen. Gerade in Thüringen wirkt es als würde wirklich zusammen wachsen, was zusammen gehört. Als sicherer Garant zur Förderung des innigen Verhältnisses zwischen staatlichen Behörden und Neonazis, gepaart mit kollektiver Ignoranz seitens der Eingeborenen, leistet Thüringen seinen Beitrag. Angefangen vom systematischen Aufbau des „Thüringer Heimatschutzes“ durch den Thüringer Verfassungsschutz, über den aus diesen Strukturen hervorgegangenen „Nationalsozialistischen Untergrund“ und seiner rassistischen Mordserie – inklusive behördlicher Vertuschung -, bis hin zur aktuellen Zusammenarbeit von CDU und FDP mit der faschistischen Thüringer AfD.

Deshalb am 3. Oktober nach Erfurt! Es gibt genug Gründe Deutschland gegen Deutschland zu sein!