Wahlwochenende in Erfurt

Die Landtagswahl steht an, bei der sich das aktuelle autoritäre und faschistische Potenzial in Thüringen bei konstanten 30 % für die AfD manifestieren wird. Für das Wochenende plant die AfD ihren Wahlkampfabschluss in Erfurt auf dem Domplatz, dagegen gibt es mehrere Veranstaltungen und Mobilisierungen. Bundesweit mobilisiert ein antifaschistisches Bündnis „Zeit zu handeln“ nach Erfurt. Im folgenden wollen wir einige Text- und Debattenhinweise dokumentieren, die sich mit dem aktuellem Mobilisierungsgeschehen und den Wahlen auseinandersetzen.

Trotz diverser Skandale und Recherchen ist und bleibt die AfD in Thüringen die stärkste Kraft in den Umfragen. Den prozentualen Gewinn zur Wahl vor fünf Jahren wird sich am kommenden Samstag in den Prozentpunkten um die 30% niederschlagen. Dass es in Thüringen so kommen musste, ist nicht der besonderen Schläue oder Strategie irgendwelcher AfDler zu verdanken, sondern ist historisch so gewachsen. In der aktuellen Ausgabe der Lirballe #32 erschien ein Artikel, „Failed State Thüringen“, welcher die Kommunal- und Europawahlen reflektiert und einen Ausblick auf die aktuellen Landtagswahlen gibt:

„Die Kommunal- und Europawahlergebnisse zeigen: Es gibt in Thüringen nur noch zwei Landkreise/kreisfreie Städte, die eine Mitte-Links-Mehrheit, d.h. links von CDU & FDP, behaupten konnten, nämlich Erfurt und Jena. In allen anderen Landkreisen gibt es in den Kreistagen und kreisfreien Städten stabile rechte Mehrheiten. AfD-Kandidaten gelangten zudem in die meisten Stichwahlen um die zu vergebenden Landrats- und Oberbürgermeisterposten – noch mit geringem Erfolg. Im dunkelbraunen Hildburghausen (Nachbarlandkreis von AfD-Landrat Sesselmann in Sonneberg) gelangte der Hardcore-Neonazi Tommy Frenck in die Stichwahl um das Landratsamt. Mehr als 10.000 Wähler gaben also einem Kandidaten ihre Stimme, den nichtmal die AfD mit spitzen Fingern anfassen würde. Solche Geschichten von erfolgreichen Neonazis und Protofaschisten, mit denen breite Teile der ostdeutschen Wähler keinerlei Probleme haben, ließen sich zuhauf erzählen. Diese rechten Kandidaten sickern nun tiefer und tiefer in die Thüringer Bürokratie ein und besetzen mehr und mehr zentrale Positionen in Verwaltungen und kommunalen Unternehmen.“

Dass das historisch gewachsene autoritäre und faschistische Potenzial in Thüringen nur endlich mal einen wie die AfD brauchte, um dieses Potenzial zu binden und zu kanalisieren verwundert nicht. Mit ihr hat die AfD bei den Kommunalwahlen einen viel wichtigeren Erfolg eingefahren, als die 30 % bei den Landtagswahlen und die Grundlage für eine weitere Festsetzung geschaffen. Dass es dem AfD-Klientel dabei herzlich egal ist, dass ein Landrat in Sonneberg nicht den Euro abschaffen oder die Migrationspolitik ändern kann, sei dahingestellt.

Bündnisse gegen die AfD?

Die Frage danach wie man der AfD begegnet wird gar nicht erst gestellt, sondern viel mehr in eine panische Mobilisierung verfallen und Events als Zeichen gegen Rechts präsentiert. Während mittlerweile ein ganznormaler CSD im Thüringer Hinterland die Borniertheit der dortigen Einheimischen und ihres neonazistischen Nachwuchs aufzeigt, werden die Massenevents in Erfurt und Jena wenig an den Erfolgen der AfD ändern. Dies soll kein Plädoyer sein, die Massenevents jetzt einfach in Sömmerda statt Erfurt zu veranstalten, soll aber auch nicht über die Lüge hinwegtäuschen das sich damit etwas ändert. In diesem Handgemenge findet die marginalisierte radikale Linke kaum noch statt und wenn, wird die eigene Gesellschaftskritik (wenn es sie denn noch gibt) zu oft hinter die Einheitsfront zurückgestellt. Am 25. August gab es, beim Happening gegen die AfD in Erfurt, einige wenige Redebeiträge die zumindest versuchten eine solche Kritik zu formulieren fanden dankenswerter Weise ihren weg, wenn auch ungünstig platziert. Die Frage nach einer Veränderung antifaschistischer Bündnispolitik geht ebenfalls ein Artikel in der vorletzten Ausgabe der Lirballe # 31 nach, „Über die Rückkehr antifaschistischer Bündnispolitik“. Ebenfalls plädiert ein weiterer Artikel in der Ausgabe für eine weitreichendere Kritik des staatstragenden Antifaschismus, „Gegen die AfD und gegen rechte Hegemonie“.

Zeit zu handeln?

Unbeachtet von den inhaltlichen Auseinandersetzungen und Überlegungen die hier vor Ort geführt werden, mischen auch antifaschistische Bündnisse aus Regionen mit, in denen es wohl politisch vermeintlich noch nicht ganz so düster aussieht wie in Thüringen. Dass sich dabei, wie beim Bündnis „Zeit zu handeln!“, auch autoritäre kommunistische Gruppen befinden, ergänzt die sonstige Inhaltslosigkeit durch Versuche in vermeintlichen Gewissheiten des 20 Jhd. irgendwie Halt zu finden. Die Einheitsfront geht für uns aber insbesondere an den Debatten und Auseinandersetzungen in Thüringen vorbei, weshalb sich auch hier der Eindruck aufdrängt, dass das Event der Landtagswahl für eigene Programmatiken und eine Selbstbeschäftigung genutzt werden. Da wir mittlerweile auch einfach zu müde sind das Rad immer wieder neu zu erfinden und der Jungle World schon einige Einschätzungen gegeben haben, wollen wir abschließend eine Kritik dokumentieren, welche dankenswerterweise „einige Ostdeutsche Antifas“ über das sonst wenig lesenswerte Indymedia-Portal verbreitet haben. Dankenswert deshalb, weil wir viele der inhaltlichen Kritikpunkte aus dem Text teilen und auch die Einschätzung unterschreiben würden, dass es der (Rest-) radikalen Linken vor allem an einem aktuellem Begriff von den herrschenden Verhältnissen fehlt. Der Zulauf den Rote Gruppen aktuell vor allem dank ihres religiös-orthodoxen Marxismus erhalten, erscheint da beinahe zwangsläufig.

Wer am Wochenende gegen den AfD-Wahlkampfabschluss demonstrieren will, kann das ab 14:30 Uhr am HBF mit dem „Auf die Plätze“-Bündnis tun. Wer am Sonntag ab 17 Uhr vor dem Landtag (Vorsicht: Symbolpolitik) u.a. mit „..ums Ganze!“ irgendwas von „Weimarer Verhältnissen“ bereden möchte, kann das dort tun, ab 19 Uhr gibt es von dort aus auch eine antifaschistische Demonstration. Wer lieber die Zeit am See oder mit seinen Liebsten verbringt, dem können wir es auch nicht verübeln. Die Zeiten, nach dem alle wieder abgereist sind, werden noch anstrengend genug.

Text Dokumentation: Eine ausführliche Antwort auf den Text „Zeit zu handeln!“ von diversen westdeutsche Antifagruppen.

Es ist „Zeit zu handeln“! So zumindest ruft es ein Zusammenschluss antifaschistischer Gruppen „in die antifaschistische Bewegung“ hinein. Handeln aber, so wissen die Verfasser:innen, erfordert so dies und das, zum Beispiel die „ehrliche Zusammenarbeit aller, die es ernst meinen und die bereit sind, mit den politischen und praktischen Konsequenzen, die der Kampf erfordert, zu leben. Auch und gerade über Lager- und Strömungsgrenzen hinweg“. Wir müssen uns „zukünftig einmischen“ in die Massenproteste gegen Rechts „und den Kampf um deren Hegemonie aufnehmen. Denn auch wenn wir ihn nicht in Gänze gewinnen können, werden wir darin hoffentlich die Basis für eine neue antifaschistische Bewegung erkämpfen.“ Wir müssen unsere „Handlungsoptionen“ erhalten, indem wir unsere „grundsätzliche[n] antifaschistische[n] Prinzipien“ „in solche großen Proteste hineintragen: Mit Faschist:innen wird nicht diskutiert, Faschist:innen werden bekämpft. Auf allen Ebenen, mit allen Mitteln, die dafür notwendig sind.“ und „in allem was wir tun, müssen wir deshalb vor allem für Kontinuität, Organisierung und Ansprechbarkeit sorgen. Nur so bleiben Großevents keine einmaligen Ereignisse, sondern tragen dazu bei, unsere Seite aufzubauen“. Schließlich wollen wir, „nicht tatenlos dabei zusehen, wie das erste Mal im Nachkriegsdeutschland ein Parlament gewählt wird, in dem eine faschistische Partei die größte Fraktion stellt“ und „werden deshalb die Wahlsiege der Faschist:innen im September nicht unwidersprochen hinnehmen. Wir werden den Wahlkampf der AfD und ihre Wahlpartys stören, Proteste gegen das Erstarken der Rechten organisieren und den Faschist:innen im Osten nicht die Straße überlassen. Wir rufen bundesweit alle Antifaschist:innen auf, sich lokal wie überregional an den Protesten gegen die Wahlerfolge der AfD zu beteiligen und diese zu organisieren.“ Denn: „Die Zeit zu handeln ist jetzt“!

Ja, ja, gewiss. Irgendwie ist ja immer „jetzt“. Es scheint fast so, als wäre die radikale Linke davon geprägt, ständig dieses „jetzt“ auszuhandeln, auf der Suche nach dem Zeitpunkt „jetzt“, wo die „Zeit zu handeln“ gekommen ist. So etwa in dem Buch „jetzt“ vom Unsichtbaren Komitee aus dem Jahr 2017, in dem darauf gedrängt wurde, „jetzt“ mit dem Handeln zu beginnen. Oder mit mehr Antifa-Bezug: „Re:organisiert die Antifaschistische Aktion!“ aus dem Jahr 2015 (https://linksunten.indymedia.org/de/node/151784/), in dem die Dringlichkeit zu handeln (und zwar jetzt) eindrücklich beschrieben wird. Der Text endete mit den Worten: „Schluss mit allem Warten! Keinen Meter der rassistischen Mobilmachung! Reorganisiert die Antifaschistische Aktion!“.Und erinnert sei auch an die Debatte, die geführt wurde, als 2013 zum erste Mal seit langem unter großer Beteiligung der lokalen Bevölkerung ein Fackelmarsch in Richtung Geflüchteten-Unterkunft in Schneeberg zog und einige Antifaschist:innen nachdrücklich auf die Gefahr dieser Entwicklung hinwiesen und ein Großteil der deutschen Linken sich in der Debatte darum verlor, dass alles nicht so schlimm sei wie in den 90ern. Es sei auch nochmal erinnert daran, dass die Gefahr, die von der AfD ausging, sowie die allgemein rechte Tendenz der Gesellschaften in Europa schon 2015/2016 andiskutiert wurde (z. B. im Autonomen Blättchen), während sich weite Teile der radikalen Linken lieber mit der eigenen Fantasie beschäftigen wollten, dass sich im Schatten der Krise die revolutionären Massen zusammenfinden würden, insbesondere immer dann, wenn sich x-beliebige Massenproteste ereigneten, deren rechtes Potential immer geleugnet oder umgedeutet wurde (wie z. B. zum Gelbwestenprotest; auch hierzu gab es aus der radikalen Linken Versuche der kritischen Einordnung, die einfach ignoriert wurden), wie zuletzt selbst beim Bauernprotest, der erneut die Fantasie aufkommen ließ, nun sei eben mit den Bauern ein Stich zu machen, wenn es gelänge, sich ins „Handge
menge“, wie es etwa bei der IL ohne Unterbrechung heißt, zu begeben. Und was ist passiert? Die radikale Linke verschwindet in der Bedeutungslosigkeit, während die Gefahr einer Rückkehr des Faschismus so groß ist, wie seit dem Ende des Zweiten Weltkriegs nicht mehr. Großen Zulauf aber haben in der radikalen Linken gerade die Gruppen, die sich auf die „Erfolge“ Stalins und Mao Tse-Tungs beziehen, von der „Arbeitermacht“ faseln und irrsinnigerweise glauben, der Klassenkampf befindet sich auf dem aufstrebenden Ast; als Zusatz dazu gibt es noch die Rückwende zur Palästina-Solidarität, weil aus absurden Gründen davon ausgegangen wird, dass es sich dabei eben irgendwie um diesen Klassenkampf handeln muss, der dann von der Peripherie auf die Zentren der Macht übergreift. Oder wie wäre es mit der Hoffnung, dass es zielführend ist, sehr viel Wert darauf zu legen, wie über irgendetwas gesprochen wird, während die Welt um einen herum brennt? Auch dieser Mumpitz wird als radikal und dienlich für die Umwälzung der falschen Welt erachtet: Wenn wir nur alle dazu kriegen, ordentlich über die Begebenheiten und Menschen in der Welt zu sprechen, wird sich alles schon zum Guten wenden. Und obendrauf eine Klimabewegung, deren öffentlichkeitswirksamster Teil radikal die Einführung des 9,– €-Tickets, das Tempolimit, klimafreundliche Gesetzesvorhaben und Absichtserklärungen der Regierung fordert.
Nicht, dass wir hier falsch verstanden werden: Wir halten es für unabdingbar, dass sich die radikale Linke auf den Antifaschismus fokussiert, und wir denken, dass dies besser „jetzt“ passiert, als irgendwann. Aber zwei Sachen wollen wir hier mit aller Deutlichkeit betonen:

1. Der Zug ist abgefahren und wir haben ihn verpasst. Es ist seit Langem (!) nicht mehr „5 vor 12“, sondern es ist jetzt nach 12.
und
2. Ohne wesentliche (!) inhaltliche Fortschritte wird die radikale Linke in der Orientierungslosigkeit ertrinken.
und
3. Wenn keine Neuorientierung wirksam wird, ist alles aus, und dann kommt der Faschismus und mit ihm der Tod.

Ja, mag da jetzt jemand denken, das ist aber krass. Wirklich, so schlimm? So schlimm, das glaube ich nicht. Können wir nicht wieder zurück zum Text „Zeit zu handeln“? Das, was da drin stand, war doch auch nicht schlecht. Schließlich geht es darum, handlungsfähig zu werden, zusammenzufinden, sich gegen den Faschismus zu wehren? Löst denn dieser Text nicht ein, was gefordert wird, eine inhaltliche Neubestimmung? Ist es nicht positiv zu bewerten, dass jemand was macht? Ja, das IST positiv, in gewisser Weise, das ist besser als nichts, aber es ist zugleich auch zu viel nichts, als dass man sich wirklich positiv darauf beziehen kann. Positiv beziehen kann man sich darauf, dass es Menschen gibt, die noch nicht aufgegeben haben, aber damit dies zur Geltung kommen kann, müssen wir einfach mal durchgehen, was an diesem Text alles negativ ist.

# Analyse statt Appell

Der Text, so kurz und knapp er auch ist und als Aufruf auch sein muss, krankt an seiner inhaltlichen Analyse. Das dürfte zugleich den Wenigsten auffallen, weil er einfach das wiederholt, was ohnehin in linksradikalen Kreisen gedacht wird. Auch das ist eine aktuelle Entwicklung: Der Inhalt ist den Meisten egal, so lange ein paar äußerliche Kriterien eingehalten werden. Aber schauen wir mal, was gesagt wird: Die „konsequente Rechtsentwicklung“ ist die „direkte Reaktion auf die tiefgreifende Krise des Kapitalismus.“ Dass es also eine Bewegung der Gesellschaft nach Rechts gibt, ist nur konsequent (Nur am Rande sei hier erwähnt, dass die konsequente Rechtsentwicklung im Grunde etwas völlig anderes ist, als im Text gemeint: Sie ist die konsequente Entwicklung des Rechts und nicht nach Rechts). Aber wo kommt sie her? Aus dem Kapitalismus selbst? Ist sie also Ergebnis eines im Kapitalismus liegenden Widerspruchs? Die Verfasser:innen sagen hier: Nein. Sie ist eben eine Reaktion auf „die tiefgreifende Krise“ und das heißt, es muss auch jemanden geben, der auf diese „tiefgreifende Krise“ reagiert und von dem diese Reaktion also kommt. Und dies sind (wie sollte es auch anders sein): die Herrschenden (tadaa!). Diese führen einen „Klassenkampf von oben“, um „den Status Quo für die Herrschenden zu erhalten“. Zu diesem Zweck haben die Herrschenden einige Möglichkeiten: Es werden „großflächig soziale Errungenschaften abgebaut, die Reallöhne gedrückt, Klimaschutzvereinbarungen missachtet, der Polizei immer mehr Möglichkeiten zur Gängelung und Überwachung an die Hand gegeben, die Militarisierung der Gesellschaft vorangetrieben.“ Also: Es gibt eine Krise im Kapitalismus, die Herrschenden wollen ihren Status Quo absichern, dazu attackieren sie „die da unten“. Aber die da unten sind natürlich nicht doof und es besteht die Gefahr, dass sie merken: Moment, es ist ja Krise des Kapitalismus und die Herrschenden wollen nur den Status Quo erhalten, und dazu machen sie uns das Leben durch Verteuerungen und Kürzungen schwer, obendrein bauen sie den Polizeiapparat auf, damit wir uns nicht erheben und wehren können. Doch die Herrschenden haben schon eine Art Trick parat: Sie flankieren ihren „Klassenkampf von oben durch immer neue rassistische, antifeministische und chauvinistische Debatten.“ Mit diesen Debatten gelingt es ihnen, die Wahrheit zu verschleiern. Und es kommt zu der finsteren Zeit, in der wir gerade leben: „Kein Tag ohne Hetze gegen Geflüchtete, gegen Menschen, die auf staatliche Unterstützung angewiesen sind, gegen Errungenschaften der feministischen Bewegung, gegen gesellschaftliche Minderheiten,…“. Aber irgendwie gefällt denen da unten das nicht. Die Herrschenden sind aber nicht so leicht als schlechte Herrschende zu erkennen. Sie haben sich eine Art Maske gegeben, sie haben eine Art falsches Gesicht. Dieses Gesicht, das sind die „Volksparteien“. Die Volksparteien sind im Text bereits in Anführungszeichen gesetzt, es sind also nicht wirklich „Volksparteien“, sondern es sind nur die Parteien der Herrschenden, die dazu dienen, den Status Quo abzusichern. Dass sie sich Volksparteien nennen, das ist schon Teil ihrer Betrügereien. Aber egal, dieses Gesicht, das drohen die Herrschenden zu verlieren, und es könnte also herauskommen, dass sie es sind, die die oben genannten Debatten entfachen. Aber auch hierfür haben die Herrschenden bereits ein Mittel, und zwar die AfD: „Die AfD fungiert in all dem als Eisbrecher in der Diskursverschiebung nach rechts. Macht das bisher Unsagbare nicht nur diskutierbar, sondern schafft einen Raum, in dem die alten „Volksparteien“ oben genanntes umsetzten können, ohne dabei das Gesicht zu verlieren.“
Wir fassen zusammen: Die Herrschenden führen einen Klassenkampf nach unten, weil es eine Krise im Kapitalismus gibt. Um den Klassenkampf nach unten zu vertuschen, bedienen sie sich des Diskurses und betreiben in diesem rassistische Hetze. Um dabei nicht das Gesicht zu verlieren, bedienen sie sich der AfD. So weit, so klassenkämpferisch – ganz schön trickreich von den Herrschenden. Sie vertuschen ihren Klassenkampf mit rechter Hetze, aber sie vertuschen sogar noch, dass dieses Medium der Vertuschung von ihnen selber kommt, sondern nutzen die AfD für dieses Interesse. Wenn wir jetzt einmal so frei sind, die Herrschenden durch die Kapitalisten zu ersetzen, denn wenn es einen Klassenkampf von oben gibt, wer soll es sonst sein, dann könnten wir es auch auf die alte Parole runterbrechen: Hinter dem Faschismus steht das Kapital. Und auch wichtig: Selbst wenn wir – wie etwa bei der letzten Europawahl – feststellen müssen, dass die Arbeiterschaft zu 35 % die AfD wählt und diese damit die stärkste Kraft unter den Arbeiter:innen überhaupt ist (vor der CDU mit 24 % und der SPD mit immerhin noch 12%), und wenn wir des Weiteren feststellen können, dass aus der Industrie (also von den Kapitalisten) Aufrufe ergehen, gerade NICHT die AfD zu wählen, weil das ein Problem für die Wirtschaft ist, dann können wir uns das leicht zurechtbiegen: Die AfD wird von den Arbeiter:innen gewählt, weil sie durch den Diskurs vom Klassenkampf nach unten abgelenkt wurden und also im weitesten Sinne nur durcheinander sind, und die Industrie tut nur so, als ob sie gegen die AfD wäre. In Wirklichkeit nutzt sie die AfD als Eisbrecher, um ihre wahren Absichten zu verbergen.
Wir teilen diese Position nicht. Aber zumindest ist sie bis hierhin in sich irgendwie „schlüssig“. Sie ist der Versuch, sich ein klares Bild von der Wirklichkeit zu machen, und damit es schön klar ist, gibt man ihm eine einfache Form – vielleicht kann diese „Analyse“ ja als Ausgangspunkt für irgendwas gesehen werden? Nun gut. Aber wie passt es dann mit dem zusammen, was dann als Nächstes kommt: „Dass ihre Forderungen aber Stück für Stück umgesetzt werden, nimmt ihr nicht etwa den Wind aus den Segeln, sondern verschafft ihren menschenverachtenden Positionen umgekehrt erst breite Legitimität.“ Moment mal – was heißt hier Wind aus den Segeln nehmen? Schließlich wurde gerade doch noch gesagt, dass das alles Absicht ist? Wer also sollte nun der AfD den Wind aus den Segeln nehmen wollen? Die AfD wird doch im Gegenteil nach der bisherigen Schilderung gebraucht als Eisbrecherin! Die „Volksparteien“, alias die „Herrschenden“, alias die Kapitalisten, bedienen sich der AfD doch, um ihren Klassenkampf nach unten zu kaschieren – wieso sollten sie denn ein Problem daran haben, breite Legitimität zu erlangen? Legitimität ist doch der bisherigen Argumentation das Ziel dieses Unterfanges. Schließlich soll sich ja der Rassismus usw. in der Masse der Beherrschten verbreiten, damit der Klassenkampf nach unten verdeckt werden kann. Es wird sogar noch verwirrender, wenn es später heißt: „Die liberalen und sozialdemokratischen Parteien wollen von den Ursachen des Rechtsruck nichts wissen, müssten sie sich doch damit eingestehen, selbst Teil des Problems und nicht der Lösung zu sein. Ganz zu Schweigen davon, dass sie gerade einige der menschenverachtenden Forderungen der Rechten selbst umsetzen. Entsprechend ist es in ihrem Interesse, die aufkommenden Massenproteste gegen Rechts zu vereinnahmen, in staatstragende Bahnen einzuhegen und weg von tatsächlichem Antifaschismus zu bringen.“ Demgegenüber müssten wir doch nun festhalten, wenn wir von der bisherigen Analyse nicht abweichen wollen, d
ass die „liberalen und sozialdemokratischen Parteien“ den Hintergrund des Rechtsrucks sehr wohl kennen, weil sie ihn ja nutzen, um den Klassenkampf nach unten zu kaschieren. Schließlich wollen sie ja die „menschenverachtenden Forderungen der Rechten selbst umsetzen“, um damit vom Klassenkampf abzulenken, nur wollen sie ihr Gesicht dabei nicht verlieren. Würden wir der vorausgehenden Argumentation folgen, dann wäre es so, dass das „Interesse, die aufkommenden Massenproteste gegen Rechts zu vereinnahmen“ daherkommt, weil sie damit ihr Handeln auf eine noch trickreichere Weise verschleiern wollen. Denn ein eigenes Interesse an der Verhinderung des Rechtstrends haben sie ja gar nicht. Wie wir schon gesagt haben, wir teilen diese Analyse nicht, aber sie wäre zumindest in sich schlüssig. Das hier präsentierte Hin und Her ist es aber nicht und ist damit Ausdruck von einem Phänomen, das die Verfasser:innen des Textes selbst konstatieren, nämlich die absolute „Defensive der reformistischen und revolutionären Linken“, von der nicht einmal ein „laues Lüftchen des Widerstandes“ ausgehen kann. Allerdings wird hierfür nicht die sich auch hier im Text abzeichnende Orientierungslosigkeit der radikalen Linken in inhaltlichen Fragen als Problem ausgemacht, sondern ein diffuser Mangel an irgendetwas, der dann dazu führt, dass die linke Bewegung eines nicht geschafft hat, „das Spürbarwerden der Krisenfolgen für sich [zu] nutzen“, also aus den Krisenfolgen so etwas wie Krisenerfolge zu machen.
In dieser letzten Äußerung, dass die Linke besser daran getan hätte, das „Spürbarwerden der Krisenfolgen“ für sich zu nutzen, zeigt sich zudem ein krudes Politikverständnis: Die radikale Linke hat so ihre Interessen, doch es gelingt ihr nicht, diese umzusetzen. Aber vielleicht ja im Angesicht der Krisenfolgen? Kann die Linke die Krisenfolgen für sich „nutzen”? Die Linke ist doch kein Selbstzweck, kein Unternehmen, das irgendwelche Krisen als Chance nutzen sollte oder das „eine adäquate Antwort“ parat haben muss, wenn es zum „Aufstieg des rechten Lagers“ kommt.“ Dahinter steckt das folgende Bild von der gesellschaftlichen Wirklichkeit: Oben die Herrschenden, in der Mitte ein Haufen blökender Schafe und links und rechts Agitatoren, die um die Gunst der Schafe buhlen, um sich irgendwie der Herrschenden zu entledigen und danach eine Gesellschaft einzurichten, die dann entweder faschistisch oder kommunistisch/anarchistisch ist. Die Schafe laufen bald hierhin, bald dahin, je nachdem, wer die bessere Antwort zu haben scheint. Dabei ist es aber gleichgültig, ob die Antwort sinnvoll ist oder nicht: Es ist alles eine Frage der Performance und Überzeugungskraft der jeweiligen „Lager“. Wofür diese „Lager“ sind, ist zufällig. Sie vertreten im weitesten Sinne bloß eine unterschiedliche Moral. Dabei wendet sich der Text selbst auch gegen das Moralisieren: Der Antifaschismus „darf nicht bei einer moralischen Kritik am Rassismus und Sexismus der Faschist:innen stehen bleiben, sondern muss auch klar die Zusammenhänge zwischen kapitalistischer Krise, neoliberaler Elendsverwaltung und dem Aufstieg der Rechten benennen“. Aber was soll das heißen: Es reicht nicht, moralisch zu sein, man muss auch Zusammenhänge benennen? Das kann man sich als Phrase auf ein T-Shirt drucken lassen, mehr aber auch nicht. Im gleichen Ton geht es weiter: „Ein Antifaschismus ohne soziale Frage, ohne Kritik an den herrschenden kapitalistischen Verhältnissen, ohne die Perspektive einer klassenlosen Gesellschaft, wird in diesen Zeiten zahnlos bleiben.“ Das zumindest ist etwas, was nicht erst „in diesen Zeiten“ so gesehen wird, sondern schon – wir sagen es vorsichtig – eine ganze Weile, wie z. B. in einem Artikel im Antifa Info Blatt aus dem Jahr 2002 nachgelesen werden kann: https://antifainfoblatt.de/aib58/zwischen-idee-realitaet-die-aa-bo-im-ru…, allerdings muss man sagen, dass die aktuelle Debatte hinter die Überlegungen aus den 90ern, die in dem angegebenen Text resümiert werden, deutlich zurückgefallen ist. Wer sich davon ein Bild machen will, der kann sich dem Link folgend mit einer ganzen Reihe von Beiträgen befassen, vielleicht nicht das Schlechteste. Wir wollen hier nicht weiter die Frage verfolgen „revolutionärer Antifaschismus – ja/nein“, sondern vielmehr ein eigenes Fazit aus der im Text angestellten Analyse ziehen. So lautet es: Jeder Antifaschismus wird zahnlos bleiben, der nicht weiß, was er tut und was er will, und der sein Fundament in einem Wirrwarr aus Ansichten und Meinungen hat. Ansichten und Meinungen – mehr hat man aber nicht, wenn man sich nicht wirklich versucht, einen Begriff von der Wirklichkeit zu machen. Es ist nicht gesagt, dass man dann nicht trotzdem mal Gutes und Richtiges tut – aber dafür, eine gesellschaftliche Bewegung in eine fortschrittliche Richtung auszulösen, wird es nicht reichen. Eine solche Bewegung muss ja gerade ihre Ursache in einer gesteigerten Reflexion auf das eigene Ich und einem gesteigerten Weltbezug haben und nicht in irgendwelchen Ansichten über Dinge, die einem nicht gefallen.

# Denken statt Handeln

Zwar wird im Text auch angesprochen, dass man „klar die Zusammenhänge“ ansprechen muss, der Fokus liegt im Text hierauf aber nicht. Im Vordergrund steht, wie der Titel ja schon sagt: das Handeln. Und dafür ist einfach oberste Dringlichkeit geboten, weil die AfD kurz davor ist, einen Wahlerfolg in den ostdeutschen Bundesländern Sachsen, Thüringen und Brandenburg zu erringen und damit in die „Geschichtsbücher der Bundesrepublik eingehen“ wird. „Diese Wahlabende im Spätsommer werden zur Zäsur.“ „Wann, wenn nicht jetzt, ist der Moment, eine neue antifaschistische Bewegung aufzubauen? Was soll noch passieren?“
Ja, was noch? Diese Frage stellt sich schon eine geraume Zeit. Es ist ja nicht so, dass wir in einer schönen Welt leben, und dann kommt der Wahlerfolg der AfD daher, der dann die Notwendigkeit einer antifaschistischen Bewegung vermitteln kann. Das Problem ist doch, dass, obwohl der Faschismus immer näherkommt, es keine nennenswerten Reaktionen aus linksradikalen Kreisen darauf gibt. Das wird im Text ja selbst festgestellt: „Die Wahl des ersten AfD-Landrats im Herbst 2023 hat die antifaschistische Bewegung praktisch ohne Reaktion zur Kenntnis genommen.“ Es stellt sich doch aber die Frage: Wieso ist das denn so? Wieso haben wir eine Entwicklung der Gesellschaft hin zum Faschismus einerseits und ein Ausbleiben der Reorganisation des antifaschistischen Widerstands andererseits? Es ist ja kaum davon auszugehen, dass es an Aufmerksamkeit für das Thema mangelt, und wie der Text ja darstellt, ist es ja nicht nur ein Problem in Deutschland: „Andere Länder wie Österreich, Italien oder die USA geben einen Ausblick auf das, was dann auch uns bevorstehen könnte.“ Der Trend ist ein internationaler, kaum zu glauben, dass es hier noch eines Fingerzeigs oder eines Weckrufs bedarf. Gibt es denn keine Gründe, wieso die antifaschistische Bewegung kaum als eine solche zu erkennen ist?
Der Text jedenfalls legt kaum Gründe nahe. Wir können nur schließen: Zum einen soll es wohl daran liegen, dass sich die Menschen die Konsequenzen des Rechtsrucks noch nicht vor Augen geführt haben. Zumindest verweist der Text auf mögliche Konsequenzen: Die Rückkehr der Baseballschlägerjahre, der Rückbau von „antirassistischen und feministischen Errungenschaften“, „für die jahrzehnte gekämpft werden musste“. „Faschistische Gewalt wird wieder Normalität, die Bedingungen linke Alternativen aufzubauen oder wenigstens zu erhalten immer schwerer und bei Anschlägen wie München, Halle oder Hanau wird es nicht bleiben“. Zum anderen daran, dass die antifaschistische Bewegung nicht geeint steht: „In Anbetracht der Stärke und des Zuspruchs, den die AfD mittlerweile erfährt, erfordert unser Kampf mehr als jemals zuvor die ehrliche Zusammenarbeit aller, die es ernst meinen und die bereit sind, mit den politischen und praktischen Konsequenzen, die der Kampf erfordert, zu leben. Auch und gerade über Lager- und Strömungsgrenzen hinweg.“ Wir sind also deswegen schwach, weil wir zerstritten sind, zerteilt in Lager und Strömungen, deren Grenzen wir nun aber überschreiten sollen. Wenn wir das zusammenfassen, so bleibt übrig: Die Angst vor dem Faschismus soll uns dazu bringen, Differenzen beiseitezuschieben, damit wir uns ihm zusammen stellen können. Oder anders gesagt: Wir sollen nicht nachdenken, räsonieren oder Ähnliches, sondern wir sollen das Denken gleich beiseite schieben und uns gemeinsam von der Angst vor dem Faschismus ergreifen lassen, damit wir dann eine geeinte Bewegung hervorbringen können.
Das ist auf jeden Fall nachvollziehbar, aber es kann nicht drumherum führen, sich den damit zusammenhängenden Problemen zu stellen. Denn erstens: Es gibt wohl ausreichend viele Menschen, die haben bereits Angst vor dem Faschismus und sehen, was da auf uns zukommt. Sie engagieren sich trotzdem nicht im Rahmen des antifaschistischen Kampfes. Noch einmal zu betonen, wie katastrophal der Siegeszug der rechten Kräfte ist und sein wird, wird wohl nicht helfen. Und zweitens: Hinter den hier lapidar aufgeführten „Lager- und Strömungsgrenzen“ verbergen sich tiefgreifende Konflikte, die durch einen gut gemeinten Appell nicht aus der Welt zu schaffen sind. Und sie reichen doch so tief, dass diejenigen, die sich da vereinen sollen, sich wechselseitig selbst als Teil der faschistischen Bedrohung sehen. Nehmen wir den eskalierten innerlinken Konflikt im Hinblick auf die Lage in Israel und dem Gazastreifen: Den einen wird die Verbindung zur Hamas, den anderen die Verbindung zu Netanjahu und Co vorgehalten und beides geht mit dem Vorwurf einher, mit faschistischen Kräften im Bunde sein zu wollen. Dementsprechend (aber nicht darauf begrenzt) werden innerhalb der Linken Vorwürfe laut, die anderen seien Rassisten oder Antisemiten. An anderer Stelle wird sich wegen unterschiedlicher Positionen im Hinblick auf den Feminismus mit den Fäusten gedroht – der Vorwurf, transfeindlich zu sein, ist ja z. B. gar nicht auf die rechte Bewegung beschränkt, und das Versagen von Genoss:innen bezüglich irgendwelcher -ismen wird sich wechselseitig regelrecht belegt und bewiesen und der Vorwurf, dass irgendwer nicht mehr zur radikalen Linken gehören kann, wird damit versucht, auf eine objektive Basis zu stellen. Und da sollen nun – schwuppdiwupp – die Strömungsgrenzen verschwinden? Es ist ja die Forderung, dass man mit denen zusammenarbeiten soll, die man selbst erst eben zum Teil des Rechtsrucks erklärt hat.
Es ist ja seit Jahren ein Wunsch innerhalb der radikalen Linken, dass wir so etwas wie eine Einheit der linken Kräfte hinbekommen. Und der Wunsch nach einer solchen Einheit verdichtet sich dann regelmäßig an irgendwelchen Highlight-Themen. So zum Beispiel zu den Gipfelprotesten und Ähnlichem. Aktuell drängen sich ja gleich mehrere Themen auf, die als Einheitsthema gelten sollen, weil sie eine solch drückende Gefahr bedeuten. Antifaschismus ist da nur das eine, andere wären der Klimawandel oder der drohende Weltkrieg. Die Themen einen aber die Linke nicht, und das aber nicht wegen ihrer Bedeutungslosigkeit oder ihrer nicht erfassten Bedeutung, und auch nicht, weil es an Appellen mangelt, sich diesen Themen globaler Bedeutung zu widmen. Mit einem „Wir denken einfach nicht mehr drüber nach, dann werden die Differenzen schon verschwinden“ ist es jedenfalls nicht getan. Es wird nicht zu viel gedacht, sondern zu wenig, und durch den Verweis darauf, dass wir aber jetzt handeln müssen, wird sich daran nichts ändern; eine radikale Linke, die geeint sein soll, braucht aber ein inhaltliches Fundament. So lange sie das nicht hat, ist sie im Grunde leer und hohl, und diese Leere kann nicht durch eine noch eindringlichere Schilderung des eigenen Standpunktes gefüllt werden.

# Inhalt statt Verpackung

Die meisten Menschen können verschiedene Produkte nicht mehr unterscheiden, wenn die Verpackung fehlt. Premium-Cola, Fritz-Cola, Coca-Cola, Pepsi wird einfach nur zu „irgendeine Sorte Cola“, wenn sie einem nur in einem Glas präsentiert wird. Selbst eingefleischte Fans dieser oder jener Sorte können ihre Lieblingssorte nicht herausschmecken. Das liegt daran, dass die Unterschiede eben nur oberflächlich und äußerlich sind. Passend dazu verhält es sich mit den meisten heute als Theorie verkauften unterschiedlichen Meinungen und Ansichten, die in der radikalen Linken kursieren. Sie sind oberflächlich und äußerlich. Kommunisten aus den neustalinistischen Gruppen und Anarchisten jedweder Couleur sind bereit, sich die Köpfe einzuschlagen, und fühlen sich dann ganz doll in der Tradition von Kronstadt und dem spanischen Bürgerkrieg. Aber wenn sie versuchen, Gründe und Erklärungen für irgendwelche Bedingungen und Verhältnisse in der Welt anzuführen, dann kommt immer der gleiche Mist. Und das gilt für eine ganze Reihe von Positionen innerhalb der radikalen Linken, die mit großem Engagement vertreten werden. Schaut man sie sich genauer an, sind sie weder radikal noch besonders unterschiedlich und sie basieren wesentlich darauf, die eigene „Marke“ irgendwie populär zu machen; dementsprechend wird sich auch der gleichen Werbemittel und Marketingstrategien bedient, wie es für die tatsächlichen Industrieprodukte getan wird. Das Sein bestimmt das Bewusstsein. Das tatsächliche einende Moment der derzeitigen Linken braucht also im Grunde gar nicht groß gesucht werden: Es besteht schon in der Inhaltslosigkeit der Verpackung. Wer auf diesem Weg fortschreiten will, der sollte es einfach so machen, wie rechte Kreise es schon lange tun: Man bewirbt einfach alle rechten Produkte, egal, ob die sich ausschließen oder zusammenpassen, und Teile der radikalen Linken haben damit bereits angefangen. Auch der Text „Zeit zu handeln“ ist ein – wenn auch gutgemeinter – Versuch, dieses zu erwirken. Insofern kann man eigentlich froh sein, dass die aktuellen Versuche, eine Einheit der radikalen Linken zu erwirken, scheitern. Wer sich aber um das Wohl der Menschen in der Welt bemühen will, der muss nicht die leere Einheit linker Kräfte forcieren, sondern der muss den kritischen Gedanken voranbringen. Dass die radikale Linke sich gerade in einer desolaten Lage befindet, verweist nicht auf ihr mangelndes Marketing, sondern ihren Mangel. Und dieser Mangel ist kein Mangel ihres Engagements oder des Mangels der Sammlung guter Wünsche, sondern ein Mangel ihres Inhalts.
Überhaupt besteht ein allgemeines Missverständnis darüber, was eine gesellschaftliche Bewegung ist. Eine Bewegung, so mag es ja scheinen, das ist so etwas, wo alle die gleiche Mütze aufhaben, wo alle einem sehr bestimmten und konkreten Inhalt zustimmen. Wenn man also denkt: „Ja ich, ich bin ein ganz radikaler Mensch, ich habe einen radikalen Inhalt, der lautet: Rassismus, Sexismus, Faschismus, Kapitalismus, Klassismus, Ableismus, Ageismus, -ismus, -ismus, -ismus sind allesamt schlecht“, was ja in linksradikalen Kreisen als zentraler Inhalt aufgeboten wird (und in der Regel nicht mehr als diese Schlagwörter), der denkt dann auch meistens dazu „Die gesellschaftliche Bewegung ist dann eine, wenn immer mehr diesen Schlagwörtern zustimmen.“ Und daraus ist dann die Konsequenz zu ziehen: „Verbreitung des Gebrauchs der Schlagwörter. Wo die Schlagwörter bedient werden, ist es gut, wo sie nicht bedient werden, ist es schlecht. Progressiv: Gebrauch der Schlagwörter, negativ: Vermeidung oder sogar Ablehnung der Schlagwörter.“ Danach wird die Welt beurteilt. Selbst die dümmsten Produkte der Unterhaltungsindustrie, deren wesentlicher Inhalt das Erzielen eines finanziellen Gewinns durch Unterhaltung eines zufriedenen und zahlungsfreudigen Publikums ist, werden danach abgeklopft, sodass in der Folge das Gucken von Serien und Kinofilmen, das Hören von Popmusik und dergleichen zur politischen Praxis wird, zur Partizipation an einer fortschrittlichen politischen Bewegung.

Wesentlich ist hierbei der Gedanke, dass eine gesellschaftliche Bewegung irgendwie erzeugt wird. Dass es also Akteure gibt, die die Gesellschaft bewegen können, in Bewegung bringen können, und wenn dies gelingt, dann haben wir die gesellschaftliche Bewegung. Das Modewort hierfür ist: Influenzer und dementsprechend wollen auch die meisten radikalen Linken irgendwo im Internet als solche auftreten. Man liest: Die AfD ist erfolgreich bei TikTok, dort erreicht sie die jungen Leute. Und die Reaktion ist: Wir müssen selbst etwas bei TikTok platzieren, um die jungen Leute zu erreichen. Die Welt ist voller hohler Köpfe und die Produzenten von Inhalten sind dafür zuständig, sie zu füllen. Dementsprechend entsteht eine linke Bewegung, wenn es zum einen gelingt, ein linker Influenzer zu werden und zum anderen, die hohlen Köpfe durch „Influenzen“ mit dem eigenen fortschrittlichen Inhalt zu füllen.
Daran ist nicht das Problem, dass es nicht funktionieren kann oder dass das irgendwie verwerflich wäre. Das Problem daran ist, dass es eben funktioniert und auch allgemein als nicht verwerflich angesehen wird. Denn: Wenn sich nicht die Fähigkeit des eigenen Denkens, die Fähigkeit zur eigenen Erfahrung, zur selbst geleisteten Reflexion entwickelt, dann ist der Inhalt, der da in den Kopf hineingekommen ist, ein beliebiger. Er ist nicht abhängig von der eigenen Beschäftigung mit der Welt, sondern vom Inhalt des Medienkonsums und er wandelt sich mit diesem. Das alles ist dann aber keine progressive Bewegung zur Überwindung der falschen Gesellschaft, sondern es ist einfach nur Ausdruck der falschen Gesellschaft. Die Bewegung, die man da meint, erzeugen zu können, ist nur die Bewegung der Gesellschaft selbst in ihrem unkritischen Verlauf und Influenzer und Konsumenten sind bloß deren Ausdruck.

Demgegenüber muss aber eine wirklich fortschrittliche gesellschaftliche Bewegung nicht aus der Selbstbewegung der falschen Gesellschaft resultieren, sondern aus der Kritik an dieser. Und diese Kritik kann eben kein Verkündungswissen in prophetischen Reden sein, sondern diese Kritik muss von den jeweiligen Individuen der Gesellschaft selbst vollzogen werden. Ein einfaches Nachplappern oder oberflächliches Sich-Aneignen reicht nicht. Die gesellschaftliche Bewegung hin zu einer freien Gesellschaft findet dementsprechend nicht statt, wenn alle einen bestimmten progressiven Inhalt, der verkündet wird, übernehmen, sondern dann, wenn das kritische Verhältnis zu den Verhältnissen von mehr und mehr Individuen eingenommen wird. Und zwar nicht aus Zustimmung zu diesem oder jenem Inhalt, sondern eben aus Selbstvollzug.

Die Aufgabe einer radikalen Linken kann dahingehend nur eine sein: die Gründe für die Selbstbewegung der Gesellschaft verstehen und ins Bewusstsein heben. Wir kämpfen nicht gegen die Gesellschaft, sondern um sie. Nicht nur monieren, was alles falsch ist, sondern verstehen, wieso es passiert, statt mit (immer neuen) Begriffen um sich zu werfen, müssen wir die Begriffe ihrem Gehalt nach entfalten, oder mit anderen Worten: das, was da als Bewegung kommen soll, das muss auch eine Bewegung in uns selbst sein.

# Entwicklung statt Tabus

Der Kampf gegen den Faschismus hat sich schon immer darauf verlegen müssen, als faschistisch identifizierte Denkinhalte mit einem Tabu zu belegen. Das liegt auch daran, dass ein anderweitiges Herangehen schwierig ist, solange der Faschismus und seine Bedingungen nicht verstanden wurden und somit unklar ist, was denn anderweitig gegen ihn getan werden kann. Der praktische Antifaschismus hat sich aufgrund dieses gesellschaftlichen Mangels immer stark daran orientiert, dieses Tabu aufrechtzuerhalten und zu stärken, immer da, wo die Gesellschaft diesbezüglich versagte. Das Problem heute ist, dass das gesellschaftliche Tabu auf internationaler Ebene verschwindet. Der Rückhalt von auch praktischem Antifaschismus war hoch zu der Zeit, wo das gesellschaftliche Tabu allgemein anerkannt war. Aber wir können feststellen, dass es nicht mehr so ist: sogar andersherum wird praktischer Antifaschismus aktuell mit dem Tabu belegt.
Das ist aber kein Mangel des Antifaschismus, sondern eine gesellschaftliche Bewegung. Wir als Antifaschist:innen haben diese aber leider „verschlafen“, sodass es aktuell das böse Erwachen gibt: überall wird praktischer Antifaschismus auf eine Weise drangsaliert, wie es den Meisten unbekannt sein dürfte. Der Umgang mit Antifaschist:innen, denen versucht wird, eine militante Praxis nachzuweisen, legt davon deutliches Zeugnis ab. Das alles, so denken nicht wenige, ist aktuell ein Marketing-Problem. Man müsse diese Form des Antifaschismus einfach besser bewerben, deren Notwendigkeit deutlicher machen und dergleichen mehr. Aber das ist eine Position, die ja beim bösen Erwachen schon wieder einschlafen will. Es ist alles KEIN Marketing-Problem, die gesellschaftliche Bewegung hin zum Faschismus findet derzeit international statt, das Tabu ist gefallen und wir sind zahlenmäßig viel zu wenige, um hier irgendwie durch geschickte PR-Tätigkeit die Trendwende hinzulegen. Vielmehr muss realisiert werden: es gab niemals ein Ende des Faschismus, sondern es gab nur ein Tabu gegenüber bestimmten Denk- und Verhaltensweisen, der Faschismus hat seit je her fortbestanden. Jetzt fällt das Tabu, der Faschismus darf sich wieder aus dem gesellschaftlichen Unbewussten und Untergründigen erheben und zeigen. Er ist schon dabei, sich zu entfalten. Die Grundlage dafür ist, dass die Menschen nicht wissen, was die Gesellschaft eigentlich ist, was der Faschismus ist und im Allgemeinen: was überhaupt los ist. Und das schließt tragischerweise weite Teile der Linken mit ein. Wenn sich etwas ändern soll, dann muss an diesem Punkt mit größtem Engagement gearbeitet werden. Sonst gehören wir als radikale Linke einfach mit zu den Ahnungslosen, die im Anblick des sich ankündigenden Todes und der sich ankündigenden Vernichtung nur voller Angst und Panik kreischend im Kreis rennen können, hilflos etwas zu unternehmen und zugleich an dem eigenen Selbstbild festhalten zu wollen, handlungsfäig zu sein.

# Praxis statt Parolen

Es ist klar, dass es ohne Praxis gar nicht gehen wird. Ohne Praxis ist irgendwann alles Nichts. Ohne sich der zerstörerischen Bewegung der Gesellschaft zu widersetzen, wird sich diese umso ungehemmter entfalten. Aber Praxis, gerade angesichts der eigenen Schwäche, braucht Überlegung, braucht Strategie, braucht eine Basis, auf der sie sich entfalten kann. Gibt es diese nicht, sind die schwindenden Kräfte schnell verbraucht. Auf keinen Fall sollte in Erinnerung an vergangene Momente der Stärke, blind an einer Praxis festgehalten werden, die ihren gesellschaftliche Rahmen von damals nicht mehr hat. Sie hat diesen schon damals nicht erzeugt, sondern sie brauchte ihn. Aber nicht stimmungsvolle Reden oder Aufrufe bringen uns in Bewegung, sondern die Beschäftigung mit der Welt. Unsere Bewegung darf aber eben nicht Ausdruck der falschen Gesellschaft sein, sondern Ausdruck eines Kampfes um eine bessere.
Damit sind wir am Schluss, aber nicht am Ende: Auch wir wollen nicht aufgeben, auch wir sind willens zu kämpfen; auch wir wollen unseren noch ungebrochenen Mut weiterhin auf die Straße tragen; auch wir wollen den Faschisten zeigen, dass noch Menschen bereit sind, für das Leben zu kämpfen, um das bisher wir alle nur betrogen wurden.
Gefunden hier: https://de.indymedia.org/node/378420