Nie wieder ist 1933 – Die AfD ist so jetzt

Im Vorfeld der Landtagswahl wurde breit mobilisiert, die Kampagnen gegen die AfD trugen wahlweise das Gewand einer historisch (falschen) Folklore, die ein zweites 1933 oder „Weimarer Verhältnisse“ (…Ums Ganze!) mit sich trugen, oder sollten die Weltoffenheit der Thüringer Provinzialität betonen. Aus „Bodo oder Barbarei“ (Die Linke), wurde keine Barbarei, dafür aber die Zumutung Voigt, Wolf, Maier. In Anbetracht der Schnelllebigkeit der Ereignisse verwundert es dann auch nicht, dass im Nachgang keiner mehr so richtig darüber reden kann und will, was man vor ein paar Monaten noch aus der Mottenkiste in diversen Aufrufen verwurstet hat. Denn worüber sollte man auch reden? Weder die Mobilisierungen antifaschistischer Gruppen im Stil der IL, noch im Habitus autoritär-roter Gruppen brachten mehr als die Dankbarkeit ein, der vermeintlichen Katastrophe nicht nur vom Sofa aus zugesehen zu haben.
Der folgende Text ist ein erster Versuch sich einer aktuellen Verständigung anzunähern, die zu dem Ist-Zustand führten und eine Auseinandersetzung anregen, die es ermöglicht die aktuellen gesellschaftlichen Verhältnisse zu kritisieren, ohne dabei der falschen Empörung und blindem Aktionismus Vorschub zu leisten. Wir verstehen diesen Text auch deshalb als Debattenbeitrag. In sechs Thesen wollen wir einen Anfang machen.

These 1 Die Farce bürgerlicher Freiheit war und bleibt Quelle von Kränkungen und autoritären Sehnsüchten.

Dass wir es nicht mit einer gesellschaftlichen Entwicklung zu tun haben, die sich adäquat als eine Wiederholung der Geschichte beschreiben lässt, zeigt sich zum einen an dem gesellschaftlichen Fortschritt der letzten Jahrzehnte: Wir konnten etwa die Liberalisierung von Geschlechternormen – auf politisch-rechtlicher Ebene korrespondiert damit die Legalisierung der gleichgeschlechtlichen Ehe – sowie die Einbindung von Minderheiten in die demokratische Willensbildung beobachten. Eine weitere Differenz stellt die fortschreitende Individualisierung dar. Die Herauslösung der Einzelnen aus relativ eindeutigen (etwa klassenmäßigen oder familiären) Zusammenhängen produziert eine wachsende Orientierungslosigkeit inmitten dem gleichzeitig wachsenden Angebot an Lebensentwürfen und der Produktion von immer weiteren Bedürfnissen.
Wir haben es also mit Verhältnissen zu tun, die immer mehr und größere Freiheitsversprechen hervorbringen, jedoch durch eine Ungleichzeitigkeit gekennzeichnet sind. Ihr Grund ist in der relativen Autonomie der materiellen Ebene von der rechtlich-politischen Ebene der bürgerlichen Gesellschaft zu finden. Die teils versprochene Freiheit beschränkt sich auf die politisch-rechtliche Sphäre und wird durch materielle Unfreiheit und Ungleichheit konterkariert. In dieser Hinsicht hat sich in den letzten Jahrzehnten nichts geändert: Die bürgerliche Freiheit war und ist in dieser Hinsicht eine Farce, pure Ideologie.
Dieser Verblendungszusammenhang – die uneinlösbare Freiheitsversprechung – führt im Individuum zu Kränkungen. Die ständige Versagung von Bedürfnissen, die teils gesellschaftliche Normativität beanspruchen, verlangt ihm förmlich die Projektion dieser Regungen auf das Andere ab. Der heute vorliegende Sozialcharakter ist also in erster Linie ein gekränkter, dem deshalb autoritäre Neigungen nicht fern sind. Vor diesem Hintergrund verwundert das starke Wahlergebnis für die AfD und anderen autoritären Formierungen kaum.

These 2 Der Rückbau des Sozialstaates ist Katalysator von Kränkungen und ermöglichte somit den Zulauf zu populistischen Parteien.

Der Grundstein für den Aufstieg der Partei ist nicht in einem scheinbar bevormundenden Staat sondern gerade in seinem Rückzug zu finden. Verschärfend mit dem Rückzug solcher staatlichen Strukturen gehen Einschnitte in soziale Absicherungen einher. Den wichtigsten Grundstein für den Aufstieg der AfD legte die rot-grüne Regierung unter Schröder mit der Agenda 2010. Acht Jahre vor der Gründung der AfD trat am 1. Januar 2005 Hartz 4 in Kraft. Damit einhergehend gab es weitere Einschnitte in die Sozialpolitik – beispielsweise den Zwang das Wohneigentum zu verkaufen, wenn das Amt dies als nicht verhältnismäßig erachtete – die hinsichtlich der heutigen Debatte gar nicht mehr weit genug gehen. Stattdessen fordert man eine weitere Prekarisierung. Die Abstiegsangst, die Angst den eigenen mittelständischen Wohlstand im Rad der Verwertung zu verlieren, ist endgültig in der Gesellschaft angekommen. Damit war die viel bemühte “soziale Hängematte”, die schon zuvor eine recht ungemütliche, kratzige, nicht im Vorgarten hängende sondern im trist-grauen Vorstadt-Block zu finden war, gänzlich einer Pritsche in der nächsten Obdachlosenunterkunft gewichen. Es wurde endgültig das “sozialpolitische Ende der Nachkriegszeit” (Gerber) eingeläutet. Diese politischen Veränderungen von relativer Sicherheit innerhalb der Gesellschaft, wandelte sich zu starken Gefühlen von Angst und Furcht vor sozialem Ausschluss. Alles war möglich, jede:n kann es treffen, auch die geerbte Familienhütte am Stadtrand war nicht mehr sicher.

These 3 Die AfD ist eine menschenfeindliche Partei – die menschenfeindlichen Verhältnisse ihre Ursache.

Die Intensivierung eines sozial-ökonomischen “survival of the fittest” und die entsprechende Gesetzgebung, die Menschen in einen riesigen Niedriglohnsektor zwang, kultivierte Ängste vor dem gesellschaftlichen Abseits. Angst als stetiger Begleiter in der warenproduzierenden Gesellschaft wurde zur Panik im Subjekt, beschleunigt durch den Abbau des Sozialstaates. Die Abstiegsangst betrifft gerade die Mittelschicht, eben jene Bürger:innen, die mit dem sozialen Abstieg etwas zu verlieren haben. Hier findet sich auch der heute idealtypische Wähler der AfD. Das Ressentiment gegen ‘das Andere’ erlaubt es dem Einzelnen, sich vor der Einsicht seiner eigenen Überflüssigkeit und Austauschbarkeit in der Gesellschaft zu schützen, in der man gezwungen ist sich selbst und damit seine Arbeitskraft zu verkaufen um zu überleben. Deren Produktionsordnung den Zweck verfolgt die rastlose Vermehrung von Tauschwerten zu forcieren. Die Identität der Subjekte konstituiert sich in diesem gesellschaftlichen Widerspruch. Durch Abgrenzung zum Geflüchteten soll die Angst vor der eigenen Niederlage in der kapitalistischen Konkurrenz abgespalten werden. Die Zugehörigkeit zum eigenen Stammesverband, wahlweise zum Volk oder Nation deklariert, liefert zusätzlich einen Halt für die krisenhafte Identität des bürgerlichen Subjektes. Diese Identität ist maßgeblich durch die Abwehr des vermeintlichen Untermenschens, auf welchen man die eigene Niederlage in der kapitalistischen Konkurrenz projiziert, und durch die Abwehr des vermeintlichen Übermenschens als Verkörperung des Abstrakten und Unverstandenen, konstituiert. Wenn diese eigene Identität, verschärft durch globale und lokale Krisen, verteidigt werden soll, dann ist menschenfeindliche Gewalt die Konsequenz.

These 4 Der Aufstieg der AfD in Thüringen speist sich aus historisch gewachsener Akzeptanz für das Autoritäre.

In eben jenes Horn bläst die AfD wie keine andere Partei. Sie hat es geschafft sich als wohlstandsbewahrende Partei des Mittelstandes zu gerieren und es seit 2015 kontinuierlich mit der Debatte um Migration und der Inszenierung als Anti-Establishment-Partei verknüpft. Dass das Bedürfnis nach einem solchen Ventil groß ist, zeigen nicht nur die hohen Wahlergebnisse insbesondere in den abgehängten Regionen Ostdeutschlands, sondern auch das Übergehen von Widersprüchen durch die eigene Wählerschaft. Da hilft es auch nichts dem AfD-Wählenden zu sagen, dass die Partei programmatisch den eigenen Interessen entgegensteht. Es geht nicht mehr um diese, es geht um eine gefühlte Wiedererlangung von Handlungsmacht, Besitzstandwahrung und das Ausstechen der Konkurrenz. Da das Wählen der AfD zum Programm der Selbstermächtigung wurde, ist es auch egal ob die Partei nun mehr oder weniger rassistisch ist. Deshalb ist es nur die halbe Wahrheit, dass sie nicht trotz sondern wegen ihrer Inhalte gewählt wird. Dass dies in Thüringen gut funktioniert, speist sich aus der historischen (Nachwende/Treuhand etc.) und wirtschaftspolitischen Entwicklung (mittelständisch geprägt). Bedeutend wird es im Zusammenspiel von gesellschaftlichen und sozial-politischen Verwerfungen und Krisen, der historisch gewachsenen Akzeptanz für autoritäre und (post-)faschistische Strukturen (DDR-Sozialisation und Baseballschlägerjahre) sowie einer Strukturschwäche der ostdeutschen ländlichen Räume. Dabei sind die letztgenannten Punkte allein nicht ausreichend um zu erklären, warum hier eine AfD mit über 30 Prozent im Landtag sitzt. Es erklärt eher warum sich der völkische Flügel um Höcke innerparteilich hier durchsetzen konnte und trotz aller moralischer Appelle und Empörungen gewählt wird.

These 5 Populismus ≠ Faschismus.

Dass sich in der postfaschistischen Internationalen, was auch immer nun postfaschistisch bedeutet, absurde Gestalten wie ein Elon Musk mit Hitlergruß präsentieren, ist als Beweis für einen neuen Faschismus so einfach wie unzureichend. Viel mehr zeichnet sich das Phänomen durch seine Marktradikalität der Libertären aus. Das heißt nicht, dass durch beispielsweise die AfD völkische und rassistische Programmatiken keinen Einzug finden und damit konkrete Bedrohungen für Menschen und die letzten Bastionen des Sozialstaates einhergehen. Was es, unter der Beachtung der jeweiligen historischen Kontexte, bedeuten kann, zeigen Argentinien unter Milei und die USA in der zweiten Amtszeit von Trump. Eins zu eins lassen sich aber auch daraus keine Schablonen übertragen. Weder wurden in Argentinien – noch ist das in den USA zu erwarten – soziale Fragen beantwortet, viel mehr ist eine Verschlechterung zu befürchten und zu beobachten. Für die Analyse bedeutet das: Wesentliche konstitutive Merkmale des historischen Faschismus fehlen dem Populismus und der Gesellschaft in der er gedeiht, wiederum kommt der Populismus und die Gesellschaft mit ihren Subjekten, mit ganz eigenen Spezifika daher. Sich dieser Analyse selbstkritisch zu widmen, wäre eine erste richtige Reaktion auf die Erfahrung von der Wirkungslosigkeit vergangener Praxis. Ansonsten dient das Herbeireden vom “maximal Bösen” nur als Distinktionsmerkmal des eigenen Antifa-Lifestyle.

These 6 Nicht allein die AfD verursachte die autoritäre Entwicklung der Gesellschaft.

Der autoritäre Rollback von Sozialstaat und Asylrecht geht indessen nicht allein auf die Kappe der AfD. Diese ist zwar parlamentarisches Sammelbecken des fremdenfeindlichen und antisemitischen Mobs, aber ohne die willfährigen Vollstrecker ihrer Politik – allen voran SPD und Grüne – wäre sie keineswegs soweit gekommen. Diese Tatsache gibt auch einen Hinweis darauf, warum die in progressiven Kreisen prominente These, der gemäß die AfD die größte Gefahr für “uns” sei, keine Grundlage hat. Nicht die AfD verursachte die autoritäre Entwicklung der Gesellschaft, sondern die Regression dieser Gesellschaft, die in der widersprüchlichen Produktion von Abstiegsängsten durch den Abbau des Sozialstaates bei gleichzeitig exponentieller Produktion von Bedürfnissen und Freiheitsversprechungen besteht, gab Anlass für den Erfolg einer AfD. Diese Verhältnisse, die die Lust nach Identität und Autorität hervorbringt erklären auch, weswegen vermeintlich linke Kräfte wie Sozialdemokratie und Grüne mit in diese Politik einstimmen.

Wir sind uns klar, dass diese Thesen nur ein unvollständiger Versuch sind sich einer Analyse anzunähren. Dennoch halten wir es aktuell für sinnvoll damit zu versuchen eine Diskussion über eine Analyse der aktuellen sich stetig beschleunigenden Geschehnisse der letzten Monate zu liefern und einer anhaltenden Sprachlosigkeit diesen Versuch entgegenzubringen. Für Anmerkungen, Kritik u.ä. sind wir offen, sowohl öffentlich oder auch per Mail.